Der TESLA-Moment der Baubranche

Digitale Geschäftsmodelle bedrängen etablierte Unternehmen. Deshalb ist das Aufbrechen von Denkmustern wichtig.

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr.-Ing. Gerald Ebel

Das Unternehmen Tesla begegnet einem in den Medien gefühlt häufiger als alle anderen Automobilunternehmen zusammen. Wie ist das möglich? Liegt es an der Person Elon Musk? An der rasanten Wertentwicklung? Oder an einer Produktphilosophie, die wie keine andere die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen auf eine neue Weise bedient? Und was kann das Bauwesen daraus ableiten?

Die wirtschaftlichen Fakten der Marke beeindrucken seit Jahren: Tesla war 2019 weltweit die Marke, die die meisten Elektroautos auslieferte. Die Firma konnte ihren Umsatz in den Jahren 2016 bis 2018 verdreifachen. Ein weiterer starker Anstieg ist aufgrund des Absatzerfolgs der aktuellen Modelle und der neuen Fabriken in China und Deutschland sehr wahrscheinlich. Tesla ist derjenige Hersteller, der bei Kunden mit großem Abstand als führend für Elektroautos wahrgenommen wird1. Und ganz aktuell hat der Wert der Marke an der Börse erstmals eine Höhe erreicht, die die von Volkswagen übertrifft2.

Der Erfolg begründet sich unter anderem in einer Blue-Ocean-Strategie. Die Blue-Ocean-Strategie ist das Streben nach einer Differenzierung bei niedrigen Kosten, um neue Nachfrage zu schaffen. Es entsteht ein unangefochtener Marktraum, der den Wettbewerb irrelevant macht. Die Strategie basiert auf der Ansicht, dass Marktgrenzen und Branchenstruktur keine Selbstverständlichkeit sind. Dieses Vorgehen ermöglicht starkes Wachstum in einem Segment, das von den etablierten Herstellern nicht bedient wird. Neben dem Ausweichen vor Wettbewerb ist dies ein weiteres Merkmal der Strategie, sodass der Zusammenhang zwischen Kosten und Nutzen ausgehebelt werden kann3. Tesla konnte für sein erstes Serienmodell einen Marktpreis realisieren, der eine hohe Marge erlaubt. Danach begann der Einstieg in kostengünstigere Produkte und in die Massenfertigung. Die konsequente strategische Differenzierung der Marke durch die Aspekte Nachhaltigkeit mit einem Elektroantrieb, der den selbstproduzierten Ökostrom verwendet, und Digitalisierung des Fahrerlebnisses, beispielsweise durch einen neuartigen Autopiloten, sind deutliche Alleinstellungsmerkmale. Tesla bietet seinen Kunden auf diese Weise ein zukunftsweisendes Mobilitätserlebnis und richtet seine erweiterten Produktentwicklungen im digitalen und physischen Bereich konsequent daran aus4.

 

 

Wie könnte eine vergleichbare Blue-Ocean-Strategie im Bauwesen aussehen?

Dazu muss man zunächst das bestehende Denkmuster der Bauindustrie erkennen: Das Bauwesen ist eine Bereitstellungsbranche, die im Kundenauftrag Unikate fertigt. Die Baustellenfertigung ist die Produktionsform der meisten Baustellen. Weiterhin ist die Trennung von Planung und Ausführung ein Wesensmerkmal der hiesigen Branche. Diese und weitere Faktoren werden in sämtlichen Lehrbüchern über die Bauwirtschaft wiedergegeben5. Beseelt von diesen Vorannahmen ist es nachvollziehbar, dass man Innovationen im Bauwesen auf Produkt- und Prozessebene der Bauwerkserstellung sucht, ohne die Marktstrukturen in Frage zu stellen.

Dieses Vorgehen wird zudem durch die Forschungsbemühungen der letzten Jahrzehnte in Deutschland und Europa gestärkt. Die Material- und Prozessforschung an Universitäten fördert dieses Denken auf zwei Ebenen: Erstens sind Forschungsvorhaben als vorwettbewerbliche Innovationsprozesse darauf ausgelegt, den Stand der Wissenschaft und Technik vom Status Quo aus zu erweitern. Das hat zur Folge, dass gänzlich neue Ansätze kaum Aussicht auf eine Forschungsförderung haben. Zweitens sind die Doktoranden der Institute von heute die Führungskräfte der Unternehmen von morgen. Sie bringen im Laufe ihrer Karriere dieses Vorgehen in das Unternehmen. TESLA hat gezeigt, dass man eine weitreichende Innovation auch ohne bahnbrechende Neuentwicklungen angehen kann. Elon Musk selbst sagt hierzu, dass eine universitäre Laufbahn aufgrund der langen Zeiträume manchmal sogar hinderlich sein kann, wenn man neuartige Ergebnisse am Markt erzielen will6.

Wir dürfen daher gespannt sein, ob der BIM-Ansatz, seit Jahrzehnten in der Entwicklung getrieben durch Forschungseinrichtungen, tatsächlich den erhofften Durchbruch bei den Planungs- und Bauprozessen hervorbringt. Praktiker sind nach wie vor skeptisch, weshalb sich die Politik genötigt sah, fördernd und fordernd einzugreifen7. Denkbar ist allerdings auch, dass Firmen einen alternativen, einfacheren Ansatz entwickeln, der zu einer schnellen Verbreitung führt. Wenn also ein Unternehmen im Bauwesen einen „Blue Ocean“ finden möchte, sollten alte Denkmuster über den Markt und Innovationen in Frage gestellt werden und unkonventionelle Lösungen gesucht werden.

 

Welches Vorgehen ist stattdessen geeignet, den TESLA-Moment zu erreichen?

Dazu muss ein Anbieter die Kundenwünsche im Bauwesen neu interpretieren. Dieser Anbieter wird die Denkmuster des bestehenden Baugewerbes missachten und neue Lösungen anbieten, die vorher nicht für realisierbar gehalten worden sind. Dieser Anbieter findet eine Antwort auf die dringenden Fragen der Kunden im 21. Jahrhundert: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Er entwickelt ein ökologisches Produkt, welches zudem durch eine intelligente Technologie im doppelten Sinne smart ist. Die Generationen Y und Z aber auch öffentliche Bauherren werden in naher Zukunft danach verlangen. Denn eine klimaneutrale EU lässt sich bis 2050 nicht erreichen, wenn der Gebäudebestand weiterhin so geplant und gebaut wird wie bisher. Die Kombination von nachhaltigen, klimaneutralen Baustoffen ist ebenso erforderlich wie der zielgerichtete Einsatz von Technologie für die optimale Nutzung des Gebäudes.

Darüber hinaus werden neue Geschäftsmodelle im Zusammenhang mit Immobilien entstehen, die in den heutigen Marktstrukturen allenfalls durch das Facility Management erkannt werden8. Ansätze wie Plattformökonomie und künstliche Intelligenz stecken im Bauwesen noch in den Kinderschuhen und bieten daher wirtschaftliche Chancen jenseits der klassischen Bereitstellung von „Menschen, Maschinen und Material“9. Für eine Blue-Ocean-Strategie ist die Analyse der Kundenbedürfnisse und technologischen Möglichkeiten der Zukunft wichtiger als die Bewertung der Geschäftsabschlüsse der Vergangenheit.

Daher wird der TESLA-Moment im Bauwesen von einem Unternehmen erzielt werden, das eine genaue Analyse der Kundenbedürfnisse durchführt, diese mit einem tiefen digitalen Lösungsverständnis angeht und den Glauben hat, Marktstrukturen ändern zu können.

Gerald Ebel Der promovierte Bauingenieur verfügt über langjährige Erfahrung sowohl in der Praxis im Bereich der Baulogistik als auch in der Wissenschaft als Professor für Logistik und BWL an der Fachhochschule Bielefeld.


1de.statista.com/statistik/studie/id/27303/dokument/tesla-motors-statista-dossier/
2www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/tesla-ueberholt-vw-mehr-als-100-milliarden-dollar-boersenwert-16595466.html 
3www.blueoceanstrategy.com/what-is-blue-ocean-strategy/
4www.tesla.com/de_DE/
5 Zum Beispiel: Zilch, Konrad ; Diederichs, Claus Jürgen ; Katzenbach, Rolf ; Beckmann, Klaus J.: Bauwirtschaft und Baubetrieb. Berlin Heidelberg New York: Springer-Verlag, 2013. S. 415 ff. 
6www.profitconfidential.com/news/what-spacex-ceo-elon-musk-says-about-getting-a-phd/ 
7www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/DG/stufenplan-digitales-bauen.pdf;
8www.haufe.de/immobilien/entwicklung-vermarktung/marktanalysen/kuenstliche-intelligenz-vor-allem-fuer-fm-unternehmen-wichtig_84324_430524.html 
9https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-thema/it-dienstleister-2020/disruption-geht-vom-kunden-aus?utm_source=zeit&utm_medium=parkett

 

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